Risiken und Chancen in der Landwirtschaft geniessen in der Öffentlichkeit grosse Aufmerksamkeit. Diskutiert werden sie im Zusammenhang mit Themen wie liberalisierte Märkte, wachsende Landwirtschaftsbetriebe oder Innovationen. In der Studie von Agroscope stehen jedoch jene Risiken und Chancen im Zentrum, die von den bäuerlichen Familien selbst wahrgenommen werden. Diese beeinflussen die Ausrichtung des Betriebs sowie die Handlungen der Familie in der Gegenwart und der Zukunft. Risiken und Chancen betreffen aufgrund der engen Verknüpfung von Betrieb und Familie meist beide Bereiche und können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.

2012 wurden 29 Interviews mit bäuerlichen Familien geführt, in denen das Zukunftsempfinden der Befragten und ihrer Betriebe im Mittelpunkt stand. Im Rahmen dieser Interviews wurden 48 Risiken und Chancen identifiziert. Um die Wahrnehmung von Risiken und Chancen bäuerlicher Familien schweizweit zu verstehen, wurde ein schriftlicher Fragebogen erstellt und im Januar 2013 an 3000 zufällig ausgewählte bäuerliche Haushalte verschickt. Insgesamt bewerteten 1229 Befragte die ausgewählten 48 Bereiche auf einer Skala von 1 («sehr grosses Risiko») bis 11 («sehr grosse Chance»). 6 war dabei ein Wendepunkt und bedeutete «weder Chance noch Risiko». 61 % der Befragten waren Männer. Das Alter aller Befragten lag zwischen 16 und 79 Jahren.

Ergebnisse der schriftlichen Befragung

Das untenstehende Diagramm zeigt die Mittelwerte der Einschätzung der 48 bewerteten Risiken und Chancen. Die Mehrheit der 48 Einschätzungen ergaben Werte, die auf Risiken hinweisen.

Der Faktor Bienensterben erhält den tiefsten Mittelwert (2,2) und wird damit als grösste Herausforderung innerhalb der erfragten Risiken bezeichnet. Weitere hoch eingeschätzte Risiken, die eng mit der Natur in Zusammenhang stehen, sind dabei Gentechnologie in der Schweizer Landwirtschaft (3), Wetterextreme (3,2), Abnahme der Biodiversität (3,5), Klimawandel (3,9) und Wasserverfügbarkeit (4,8).

Auffallend ist eine starke Gewichtung von Risiken, die eng mit der Familie verbunden sind, aber durchaus auch Auswirkungen auf die Landwirtschaftsbetriebe haben können: Trennungen/Scheidungen (2,6), Depressionen/Burnout (2,7), Krankheit in der Familie (2,9), Arbeitsbelastung/Stress (3), keine Frau auf dem Betrieb (3,3), Suizid (3,3) und Alkoholismus (3,3).

Ebenfalls als hoch gewichtet wurden einige Risiken, die einen direkten Bezug zum landwirtschaftlichen Betrieb haben: das Risiko der Grenzöffnungen/Freihandel (2,6) sowie die Abnahme der landwirtschaftlichen Nutzfläche (2,6).

Als Chancen gesehen werden die Beziehung zur Natur (8,3), Anerkennung des Beitrags der Frauen in der Landwirtschaft (7,6), Tourismus (7,3) und Stellenwert des lokalen Wissens (7,3). Auch Traditionen (6,8) sowie Nebenerwerbstätigkeiten (6,7) werden positiv eingeschätzt. 

Einschätzung der Risiken und Chancen

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Mittels einer Faktoranalyse und einer anschliessenden Clusteranalyse konnten vier Gruppen von Befragten ausgemacht werden, die in ihren Wahrnehmungen von Risiken und Chancen ähnlich sind. Die Befragten und ihre Betriebe sind sehr unterschiedlich in ihrer Form, ihrer Art zu wirtschaften und zu leben. Diese Merkmale scheinen aber keinen Einfluss auf die Einschätzung der unterschiedlichen Herausforderungen zu haben.

Die vier Gruppen haben alle ein sehr ähnliches Grundmuster. Sie unterscheiden sich vor allem in der wahrgenommenen Ausprägung der Risiken untereinander. Gruppe 1 sieht alle Risiken tendenziell am gefährlichsten, während die Gruppe 4 alle Risiken am wenigsten gefährlich einschätzt. Die beiden Gruppen 2 und 3 liegen mit ihren Ausprägungen zwischen Gruppe 1 und 4. Die erwähnte Gruppe von Risiken, die vor allem soziale Thematiken betreffen, wie Trennungen/Scheidungen, Depressionen/Burnout, Krankheit in der Familie, Arbeitsbelastung/Stress, Suizid und Alkoholismus, wird ebenfalls von allen vier Gruppen als hoch bewertet.

Depressionen und Burnout in der Landwirtschaft: Ein Beispiel

Anhand der Auswertungen aus einem Interview mit einer Betriebsleiterin wird aufgezeigt, was hinter dem Risiko «Depression/Burnout» steht und welche Auswirkungen eine solche Krankheit auf eine bäuerliche Familie und ihren Betrieb haben kann. Dies kann veranschaulichen, was der hohen Risikowahrnehmung von Depression/ Burnout zugrunde liegt.

Frau A. ist 47 Jahre alt, hat zwei Kinder und führt zusammen mit ihrem Mann einen 40 ha grossen Betrieb im Berggebiet. Ihr Mann leidet seit über 20 Jahren an einer Depression.

«Bevor die Depression bei meinem Mann diagnostiziert worden war, war das von der Arbeitsbelastung her für die ganze Familie eine immense Überforderung. Ich selber habe da auch ganz viel kompensiert. Geholfen hat mir da immer mein Beruf als Lehrerin. Auswärts arbeiten zu gehen, war für mich lange Zeit eine Horizonterweiterung. Wenn es zu Hause schwierig war, ist es in der Schule gut gelaufen und umgekehrt. Bis zu dem Moment, wo es dann an beiden Orten schwierig geworden war und dann ist alles zusammengefallen. Ich habe dann die Arbeit in der Schule nur noch als Belastung gesehen und nicht mehr als Chance.

Der finanzielle Aspekt war natürlich auch ein grosses Thema, als mein Mann als Betriebsleiter ausfiel. Wir wussten lange Zeit nicht, ob wir Versicherungsleistungen erhalten und wir einen Angestellten bezahlen können. Für uns war das sehr bedrohlich und existenziell. Dazu kommt, dass es für meinen Mann schwierig ist, Zielsetzungen für unseren Betrieb zu haben und neue Ideen umzusetzen. Wir sind sicher weniger innovativ als andere Betriebe, und bei mir hat sich dadurch das Gefühl der Abhängigkeit, wie etwa von den Direktzahlungen verstärkt.

Mitten in der Umstellungsphase unseres Betriebs vor fünf Jahren bin ich dann selber krank geworden. Ich erhielt die Diagnose Burnout und Depression. Meiner Erfahrung nach wird ein Burnout in unserer Gesellschaft anders gewertet als eine Depression. Ein Burnout setzt voraus, dass du zuvor zu viel gearbeitet hast. Bei einer Depression ist das nicht unbedingt so. Ich habe immer versucht, die Krankheit von meinem Mann und dann auch bei mir selber positiv aufzunehmen, aber es war für mich dann trotzdem ein ganz schwieriger Schritt, die Diagnose als solche zu sehen.»

Schlussfolgerungen

Risiken und Chancen sind wichtige Grundlagen des menschlichen Handelns und daher ein bedeutendes Fundament für die Strategien der bäuerlichen Familien im Hinblick auf die Betriebe und die Familien. Die Resultate der schriftlichen Befragung haben gezeigt, dass unter den bäuerlichen Familien eine hohe Sensibilität bezüglich sozialen und Umwelt-Thematiken herrscht.

Die verschiedenartigen Risiken und Chancen wiederspiegeln die komplexe Realität der bäuerlichen Familienbetriebe. Ihre Bewirtschaftung erfordert das Einbeziehen unterschiedlichster Risiken und Chancen, die über den Markt und die Finanzen hinausgehen. Die starke Wechselwirkung zwischen Privatem und Beruflichem in der Landwirtschaft kann dazu führen, dass die vielfältigen Auswirkungen auf Familie und Betrieb nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind.

Literatur

Christine Jurt und Esther Kobel: Risiken und Chancen aus Sicht von bäuerlichen Familien, unveröffentlicht, 2015

Christine Jurt, Esther Kobel, Agroscope INH, christine.jurt@agroscope.ch